AGS bei Neugeborenen

In diesem Abschnitt lernen Sie die wichtigsten Fakten über AGS im Säuglings- und Kleinkind-alter kennen. Sie werden über Möglichkeiten pränataler Diagnostik, das sogenannte „Neugeborenenscreening“ und Besonderheiten in den ersten Lebensmonaten aufgeklärt. Hier braucht es regelmäßige Kontrollen, etwas Geduld und eine passgenaue Einstellung mit Medikamenten. Daneben wird über Besonderheiten der schwereren Form von AGS mit Salzverlust, eine allgemeine Unterzuckerungsneigung und vorbereitende Gegenmaßnahmen aufgeklärt. Zudem werden Diagnose und Besonderheiten eines AGS bei Mädchen diskutiert und Vorteile, mögliche Risiken einer Operation im Kleinkindalter und der aktuelle rechtliche Rahmen dargestellt.

Die Diagnose durch das Neugeborenenscreening

Ein AGS mit Salzverlust kann bereits kurz nach der Geburt bei beiden Geschlechtern zu einer lebensgefährlichen Krise führen. Ab diesem Zeitpunkt verursacht auch der Mangel an Mineralokortikoiden schwerwiegende Symptome, was vor der Geburt nicht der Fall ist. Relativ schnell kann das Kind viel Flüssigkeit verlieren und dadurch in eine lebensbedrohliche Krise geraten. Daher wurde AGS in das sogenannte „Neugeborenenscreening“ in Deutschland aufgenommen. Dies ist eine ausführliche Reihenuntersuchung, die Neugeborene auf verschiedene Erkrankungen untersucht.

Auch wenn vor der Geburt Eltern über alle Erkrankungen, nach denen generell gesucht wird, informiert werden, sind viele sehr überrascht, wenn sie eine Nachricht erhalten, dass das Screening den Verdacht auf ein AGS ergeben hat. Oft haben sie sogar vergessen, dass eine Untersuchung durchgeführt wurde – was bei der Aufregung und dem Trubel, die mit einer Geburt einhergehen, auch völlig verständlich ist! Durch das Screening werden diese Jungen und Mädchen in den allermeisten Fällen zum Glück erkannt, bevor eine lebensbedrohliche Salzverlustkrise auftritt. Bei Mädchen wird allerdings in manchen Fällen auch schon während der Schwangerschaft bereits an ein AGS gedacht, da sich aufgrund der Wirkung der Androgene das äußere Genitale nicht typisch männlich oder weiblich im Ultraschall darstellt. Da Jungen keine äußerlichen Anzeichen für ein AGS aufweisen, werden sie häufig zunächst nach Hause entlassen, bevor das Ergebnis des Screenings vorliegt.

Vor der Einführung des Screenings hatten Kinder mit AGS meist innerhalb der ersten 10 Tage bis 3 Lebenswochen eine lebensbedrohliche Krise mit folgenden Symptomen:

  • Trinkschwäche
  • Erbrechen
  • Austrocknung
  • Kreislaufschock

Seit mehr als 20 Jahren wird in Deutschland bereits bei Neugeborenen eine Untersuchung zur Früherkennung des AGS durchgeführt. Hierzu wird zwischen der 36. und 72. Lebensstunde Blut entnommen und auf ein Filterpapier getropft. In einem spezialisierten Labor wird darin die Konzentration des „17-Hydroxyprogesteron“ bestimmt, welches eine Kortisonvorstufe der Nebenniere ist. Dieses ist bei Kindern mit AGS stark erhöht. Allerdings ist dieser Test ein Suchtest und ein erhöhter Wert macht die Diagnose AGS noch nicht sicher. Bei einigen Kindern – insbesondere bei Frühgeborenen oder bei kranken (gestressten) Neugeborenen – kann der Wert ebenfalls erhöht sein, ohne dass dabei ein AGS vorliegen muss!

Tiefergehende Informationen

Beim Neugeborenenscreening wird das Hormon bestimmt, das vor dem defekten Enzym namens “21-Hydroxylase“ liegt und das “17-Hydroxyprogesteron“ heißt. Dies ist bei unbehandelten Patienten mit AGS stark erhöht (normal < 30 – 50 nmol/l).

Wenn dieser Wert im Screening erhöht ist, wird meist telefonisch und unmittelbar Kontakt mit der Familie des betroffenen Kindes gesucht, um eine möglichst schnelle Abklärung zu gewährleisten.

Es sollte eine genauere Analyse der Konzentration dieses Hormons im Blut durchgeführt werden. Zusätzlich werden die Natriumkonzentration und die Konzentrationen weiterer männlicher Hormone gemessen.

Auch andere Hormone sind aufgrund des Enzymdefekts um ein Vielfaches erhöht. Die Verdachtsdiagnose wird in der Folge über eine dieser laborchemischen Analysen bestätigt. Im Blut liegt beim AGS mit Salzverlust ein Mangel an Natriumsalz und ein Zuviel an Kaliumsalz vor. So kann das AGS bereits in den ersten Lebenswochen diagnostiziert werden.

Die Diagnose eines Salzverlusts ist in den ersten Wochen jedoch schwierig, da das Natrium noch nicht erniedrigt und das Kalium noch nicht erhöht sein muss.

Sollte das Screening auffällig sein, wird neben den Hormonbestimmungen auch eine molekulargenetische Untersuchung durchgeführt, welche eine Abklärung zwischen schweren und milden Verlaufsformen des AGS ermöglicht.

Bei der milderen Form des AGS fallen die Kinder meistens nicht im Neugeborenenscreening auf, sondern durch verfrühte Veränderungen, wie sie sonst erst in der Pubertät auftreten (z. B. schnelles Wachstum, Schambehaarung).

Dabei handelt es sich aber nicht um eine wirkliche Pubertät, sondern um eine sogenannte „Pseudopubertät“, bei der die männlichen Hormone nicht von den Hoden, sondern von den Nebennieren gebildet werden.

Auch dann können sich eine Schambehaarung und eine Wachstumsbeschleunigung am jungen, nicht geschlechtsreifen Körper einstellen.

Behandlung von Säuglingen mit AGS

Der bei einem AGS bestehende Hormonmangel an Kortisol und Aldosteron muss so schnell wie möglich ausgeglichen werden. Da dieser Mangel ein Leben lang bestehen wird, müssen die Hormone auch konsequent ein Leben lang ersetzt werden. Glücklicherweise ist dies oral durch die Gabe der Hormone in Tablettenform leicht möglich und tut nicht weh. Im Gegensatz etwa zum Typ 1 Diabetes Mellitus, wo das lebensnotwendige Insulin mehrmals täglich per Spritze ins Unterhautfettgewebe injiziert werden muss, was natürlich nicht schmerzfrei ist. Da der Überschuss an Androgenen eine Folge des Kortisolmangels ist, führt der Ersatz von Hydrocortison zu einer schnellen Normalisierung des erhöhten Androgenspiegels.

Entsprechend den aktuellen Behandlungsleitlinien wird in der Regel das natürliche, körpereigene Hormon Kortisol in Form von Hydrocortison zur Therapie eingesetzt. Da die Kortisolproduktion frühmorgens am höchsten ist, versucht man diese nachzuahmen, indem bereits der größte Teil der Tagesdosis von Hydrocortison (50%) morgens gegeben wird. Die restliche Dosis wird dann zu gleichen Teilen mittags (25%) und abends (25%) verabreicht. Auch eine Aufteilung nach dem Prinzip 40-20-40% ist nach heutigem Kenntnisstand möglich. Die Dosierung des Hydrocortisons wird auf die Körperoberfläche bezogen und liegt als Richtlinie bei Kindern zwischen 10-15 mg/ m²/Tag. Natürlich muss bei jedem Kind die Dosis individuell angepasst werden, sodass diese auch leicht darunter oder darüber liegen kann. Für ein Abweichen von der empfohlenen Dosis müssen jedoch hinreichende Gründe vorliegen, wie etwa eine schlechte metabolische AGS-Einstellung trotz regelmäßiger und gesicherter Medikamenteneinnahme. In der Pubertät kann der Bedarf darüber hinaus phasenweise ansteigen

AGS mit Salzverlust

Bei allen Säuglingen sollte zunächst immer ein Mineralokortikoid gegeben werden, da das AGS mit Salzverlust die häufigste Form ist. Bei Kenntnis der genetischen Befunde kann die Wahrscheinlichkeit eines Salzverlustes aufgrund des Mangels an Mineralokortikoiden gut abgeschätzt werden. Außerdem kann die Renin-Bestimmung im Blut ebenfalls bei der Beurteilung helfen, ob ein Mineralokortikoidmangel vorliegt oder nicht. Ist dies der Fall, muss außer dem Hydrocortison auch das fehlende Mineralokortikoid dauerhaft ersetzt werden. Dies geschieht ebenfalls in Tablettenform mit dem Wirkstoff „Fludrocortison“. Die Dosierung dieses synthetischen Mineralokortikoids liegt zwischen 0,05 und 0,2 mg/Tag und wird meistens in 1 oder 2 Einzeldosen verabreicht. Der Bedarf im Säuglingsalter ist oft größer als bei älteren Patienten. Die Gabe sollte langfristig unter regelmäßigen Blutdruck-, Renin- und Blutsalzkontrollen erfolgen.

Nur bei Kindern, bei denen aufgrund der Laborbefunde und der genetischen Untersuchung sicher davon auszugehen ist, dass kein Mineralokortikoidmangel besteht, kann allein mit Hydrocortison behandelt werden. Oft profitieren jedoch auch diese Kinder von einer ganz niedrigen Fludrocortison Dosis. Unter den allgemein verwendeten Hydrocortison-Dosierungen treten normalerweise keine Nebenwirkungen auf. Daher müssen Eltern der weit verbreiteten Meinung bzw. Verallgemeinerung „Kortison ist immer schlecht für mein Kind“ entschieden entgegentreten. Logischerweise geht es nur um den Ersatz der Menge, die jeder gut funktionierende Körper braucht und keinesfalls um hochdosierte Therapien, wie sie z. B. aus einer Rheumabehandlung bekannt sind.

Jeder Mensch braucht Cortison! Treten Nebenwirkungen auf, so ist dies ein Zeichen dafür, dass die Betroffenen nicht gut „eingestellt“ sind und wahrscheinlich ein Zuviel des lebensnotwendigen Stoffes erhalten. Wichtig für eine gute Einstellung sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen bei erfahrenen Ärzten mit einer Spezialisierung in der Endokrinologie, die eine signifikante Anzahl an Patienten mit AGS betreuen. Eine Kontrolle der Therapie erfolgt in den ersten zwei Lebensjahren alle 3 Monate und umfasst zumeist eine Blutentnahme für die Bestimmung der Nebennierenhormone, da noch nicht mit genügender Sicherheit Speichelproben für ein 24 Stundenprofil des 17-OH-Progesteron gesammelt werden können.

Unterzuckerungsneigung bei AGS

Besonders im Säuglings- und Kleinkindalter kann es bei einzelnen Kindern mit AGS zu einer Unterzuckerungsneigung kommen. Diese kann durch die verminderte Bereitstellung der Glukokortikoide erklärt werden. Letztere helfen den Blutzucker zusammen mit anderen Hormonen zu stabilisieren. Dass nicht alle Menschen mit AGS zu Unterzuckerungen neigen, hängt auch damit zusammen, wie gut und empfindlich die zusätzlichen „Zucker-Stabilisierungshormone“ arbeiten und wie ausgeprägt der primär dem AGS zugrunde liegende Enzymdefekt ist.

Wie merke ich, dass mein Kind eine Unterzuckerung haben könnte?

Symptome, die auf eine Unterzuckerung hinweisen können, sind allgemeine Zittrigkeit, Schwitzen (Schweißperlen auf Oberlippe und Stirn), Heißhunger und Schlappheit („Apathie“) oder auch fehlende Reaktion auf Ansprache oder Stimulation. Im schlimmsten Fall kann bei einer Unterzuckerung sogar ein Krampfanfall auftreten. Dies passiert aber zum Glück sehr selten.

Die erste Maßnahme besteht immer in der Gabe von schnell aufzunehmenden, kurzkettigen Kohlenhydraten. Dies sind vor allem Säfte und Traubenzucker. Bewusstlosen Kindern sollten jedoch keine Flüssigkeiten eingeflößt werden, da es sonst zu einem Verschlucken in die Luftröhre kommen

kann. Im Falle einer Bewusstlosigkeit sollte in jedem Fall der Notarzt gerufen werden! Wenn Sie Unterzuckerungen bei Ihrem Kind vermuten, sollten Sie umgehend mit Ihrem behandelnden Kinderendokrinologen sprechen. Man kann Ihnen dort ein Blutzuckermessgerät für zu Hause rezeptieren und Sie im Umgang damit schulen. Bei einem erneuten Unterzuckerungsverdacht sind Sie dann in der Lage mit einer Blutzuckermessung den Verdacht zu bestätigen und können sich ggf. Hilfe holen. Bei Säuglingen können Unterzuckerungen nachts auftreten, wenn der Abstand zwischen der abendlichen und der morgendlichen Hydrocortison-Gabe zu lang ist. Hier kann in vielen Fällen eine vorübergehende nächtliche vierte Hydrocortison-Dosis zur Stabilisierung beitragen. Diese Möglichkeit sollten Sie mit Ihrem Arzt besprechen.

Besondere Risikosituationen für Unterzuckerungen sind lange Nüchternheitsphasen, Magen-Darm-Infekte oder andere fieberhafte Erkrankungen. In späterem Alter kann es auch nach übermäßigem Alkoholkonsum zur Unterzuckerungsneigung kommen. Bei den meisten Kindern treten nach dem Kleinkindalter nur noch selten Unterzuckerungen auf. Dabei handelt es sich meistens um die oben genannten Risikosituationen. Auch dann besteht die Notfalltherapie in der Gabe von schnell resorbierbaren Kohlenhydraten (z. B. Saft, zuckerhaltige Limonaden oder Traubenzucker). Bei fieberhaften Infekten muss zugleich die Hydrocortison-Dosis verdreifacht bis verfünffacht werden. Bei Erbrechen sollte an die Möglichkeit der Gabe von Prednison Zäpfchen gedacht werden.

Besonderheiten der Diagnose eines AGS bei Mädchen (OP im Kleinkindalter)

Möglicherweise haben Sie erst gerade erfahren, dass Ihre neugeborene Tochter ein AGS hat. Verständlicherweise machen Sie sich nun große Sorgen und Sie haben eventuell Angst, falsche Entscheidungen für ihre Tochter zu treffen, die Sie nicht mehr rückgängig machen können. Neben den medizinischen Aspekten z. B. der Möglichkeit einer lebensbedrohlichen Stoffwechselkrise und der unbedingten Notwendigkeit einer lebenslangen Therapie (-Überwachung) sind Sie nun mit der Tatsache konfrontiert, dass Ihre Tochter eine Veränderung im Aussehen der äußeren Genitalien aufweist. Letztere schauen anders aus, als Sie es normalerweise erwartet hätten. Nun werden Sie auch noch damit konfrontiert eine Entscheidung darüber treffen zu müssen, ob und wann ein operativer Eingriff mit einer Korrektur bei ihrer Tochter erfolgen soll. Es ist nur verständlich, dass Sie sich vermutlich mit der Gesamtsituation unwohl und überfordert fühlen.

Die Entscheidung für oder gegen eine Operation ist eine sehr persönliche und kann eigentlich nur vom Kind selbst getroffen werden. Jedoch ist jenes aufgrund seines Alters dazu noch nicht in der Lage und wird vermutlich noch einige Jahre brauchen, um seine eigene Erkrankung hinreichend zu verstehen. Ärzte können immer nur einen Rat aussprechen. Ganz egal, wie eine Familie sich entscheidet – sie kann sich sicher sein, dass die behandelnden Fachärzte die persönliche Entscheidung mittragen und unterstützen. Um diese gut treffen zu können, brauchen Eltern und Erziehungsberechtigte eine umfassende Aufklärung über alle Möglichkeiten eines operativen Eingriffs. Die Frage, ob eine Operation wirklich nötig ist, sollte offen diskutiert werden. Hierbei ist es individuell sehr unterschiedlich, was als notwendig angesehen wird und es gilt es auf jeden Fall noch eine kurze Zeit abzuwarten. Unter der medikamentösen Behandlung kann die Vermännlichung des äußeren Genitals eines Mädchens auch geringer werden. Eine Entscheidung für eine OP bei AGS ist keine Notfallmaßnahme, sondern ein geplanter Eingriff nach sorgfältiger Abwägung und Entscheidung! Somit gibt es nicht die eine „richtige” oder „falsche” Antwort. Gleichzeitig kann je nach Ausprägungsgrad des veränderten äußeren Genitals eine medizinische Indikation vorliegen, weil gesundheitliche Probleme akut und zukünftig auftreten können werden. Probleme wie Blasenentzündungen bei Harnabflusshindernis oder mangelhafter Abfluss des Menstruationsblutes.

Da jede Familie und jedes soziales Herkunftssytem unterschiedlich ist, gibt es auch viele unterschiedliche Lösungen für ein glückliches Dasein. In dieser Konsequenz ist die oftmals an die behandelnden Ärzte gerichtete Frage „Was würden Sie nun an unserer Stelle tun?“ zwar menschlich nachvollziehbar, lebenspraktisch aber nicht wirklich hilfreich. Leider gibt es nur wenige gute Langzeituntersuchungen nach einer solchen Operation. Viele der vorliegenden Studienergebnisse resultieren aus Operationstechniken, die bereits lange nicht mehr praktiziert werden, da sie heute als nicht mehr auf dem medizinisch neuesten Stand gelten.

Einige erwachsene Patienten leiden heute stark unter den schlechten Ergebnissen der alten OP-Techniken. Sie fordern daher, dass alle Eltern die Entscheidung für oder gegen eine Operation auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, bei dem das Kind auf jeden Fall selbst mitreden kann. Andere Frauen sagen, sie seien glücklich darüber, dass die Eltern ihnen diese Entscheidung einst abnahmen. Ihrer Empfindung nach war eine sehr frühe Korrektur genau richtig und ermöglichte Ihnen früh(er) – vergleichbar mit der OP bei einem angeborenen Herzfehler – ein selbstbestimmtes und unbeeinträchtigtes Leben. Bei Befragungen von AGS betroffenen Frauen hat sich überdies die Tendenz gezeigt, dass sehr große Zufriedenheit über Operationen im Kindesalter vorliegen, wenn in Kompetenzzentren operiert wurde, in denen ein großer Erfahrungsschatz für AGS-Operation in Chirurgie und der Begleitung der Familie durch Endokrinologie und Psychologie vorliegt.

Argumente, die für eine Operation im ersten Lebensjahr sprechen, sind eine einfachere Durchführbarkeit, da durch die erhöhten Sexualhormonspiegel im Rahmen der sogenannten „Mini-Pubertät“ im Säuglingsalter das Genitalgewebe elastischer ist. Zudem kommt eine verminderte Narbenbildung und somit ein verbesserter Erhalt der Sensibilität und eine insgesamt komplikationslosere, post-operative Entwicklung. Zudem beginnt die Geschlechtsidentifikation allmählich ab dem zweiten Lebensjahr und das Kind besucht eventuell schon früh eine Krippe oder eine Kita, in der sich die Kinder vielleicht in ihrer Nacktheit begegnen. Für die Entscheidung zu einer frühen Operation wurde 2002 auf einer internationalen Konsensuskonferenz beschlossen, dass basierend auf neueren Ergebnissen der optimale Zeitraum ein Lebensalter von 2 bis 6 Monaten darstellt, da in diesem Alter die Operation besser durchzuführen ist als später. Während man in der Vergangenheit häufig zu zwei Zeitpunkten operiert hat (Klitorisverkleinerung im Säuglingsalter und Vergrößerung der Scheide und Verlagerung der Scheidenöffnung vor Beginn oder in der Pubertät), wird heute entsprechend den Leitlinien dieser Konsensuskonferenz empfohlen, in einer einzigen Operation gleich beide Korrekturen durchzuführen. Vor der Entscheidung für und der Durchführung einer möglichen Operation sollten Sie sich immer ausreichend informiert und gefestigt in ihrem Entschluss fühlen. Die Entscheidung für eine Durchführung der Operation ihrer Tochter ist nicht mehr rückgängig zu machen und muss daher wohl überlegt und abgewogen sein! Sehr wichtig ist eine ausreichende Erfahrung seitens der Chirurgen. Im Jahr 2002 hat eine internationale Medizinkonferenz Leitlinien für die Diagnostik und Behandlung des AGS festgelegt. Dieses sogenannte „Consensus Statement“ (dt. Konseserklärung) der Lawson Wilkins Pediatric Endocrine Society for Pediatric Endrocinology hat festgehalten, dass ein chirurgischer Eingriff nur in Zentren mit einer gesicherten Expertise erfolgen sollte und definiert ein solches Zentrum mit einer Operationshäufigkeit von mindestens 3 – 4 Patienten pro Kalenderjahr. Es gibt in Deutschland nur wenige Zentren, die diese Kriterien vollends erfüllen. Daher sollten Sie explizit fragen, wie viele Operationen pro Jahr durchgeführt werden. Bei ausweichender Antwort, wie etwa „manche“ oder „einige“ sollten Sie nach der exakten Anzahl fragen. Ruhig und bestimmt sollten Sie auch nach dem jeweiligen Erfolg fragen. Lassen Sie sich auch Bilder von vor und nach der OP zeigen. Gute und erfahrene Ärzte werden dies nicht ablehnen und einwilligen, wenn Sie als Fürsorgende in dieser wichtigen Frage eine zweite Meinung einholen möchten. Fragen Sie auch danach, ob der Chirurg die Ergebnisse der oben genannten Konsensuskonferenz kennt. Seit Oktober 2021 gibt es in Deutschland eine neue Rechtslage (§1631e Bürgerliches Gesetzbuch). Seitdem können Eltern nicht mehr im Alleingang möglichen operativen Eingriffen an den inneren und/oder äußeren Geschlechtsmerkmalen eines nicht einwilligungsfähigen Kindes mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung zustimmen, insofern der Eingriff nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden kann. Die Einwilligung erfordert eine Genehmigung des Familiengerichtes, welches seine Entscheidung auf Grund der Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission trifft.

Diese Stellungnahme kann auf schriftlicher Basis erfolgen. Einer interdisziplinären Kommission gehören der behandelnde Arzt/die behandelnde Ärztin, eine weitere ärztliche Person, eine Person mit psychologischer, kinder- und jugendpsychotherapeutischer oder kinder- und jugendpsychiatrischer Berufsqualifikation und eine in Ethik weitergebildete Person an. Die ärztlichen Kommissionsmitglieder müssen unterschiedliche kinderheilkundliche Spezialisierungen aufweisen und dürfen nicht in derselben Einrichtung beschäftigt sein. Zudem muss eine Fachärztin oder ein Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Kinderendokrinologie und –diabetologie einer Operation zustimmen. Alle Kommissionsmitglieder müssen Erfahrung im Umgang mit Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung haben. Da bei Mädchen mit AGS die inneren Geschlechtsmerkmale ohne Einschränkung weiblich sind und später einmal ein regelmäßiger Menstruationszyklus einsetzt und Schwangerschaften möglich sind, ist dieser Weg gewählt worden, um im Gegensatz zu anderen Varianten der Geschlechtsentwicklung eine operative Therapie zum idealen Zeitpunkt offen zu halten.

Trotz aller Sorgen sollten sich Familien und soziale Bezugssysteme der Diagnose so offen und unaufgeregt wie möglich stellen. Es gibt keinen Grund irgendetwas zu verheimlichen! Die Erkrankung ist gut behandelbar und die Kinder können ein völlig normales Leben führen. Jedes Verschweigen, auch dem Kind selbst gegenüber, schafft Raum für Mythen und falsche Vorstellungen. Auch könnte sich das Kind unsicher fühlen, wenn über etwas, von dem es betroffen ist ein Geheimnis bleiben soll. Hier kann die Selbsthilfe entscheidend dazu beitragen, dass es gelingt die Phase der eigenen Verunsicherung möglichst schnell hinter sich zu lassen und das Kind auf die Zukunft hin ausgerichtet zu begleiten.

Unsere Broschüre

An dieser Stelle möchten wir Ihnen gerne die Möglichkeit geben, die Broschüre der AGS Initiative e.V. herunterzuladen. Diese umfassende Broschüre enthält neben den Themen, mit denen wir uns auf unserer Homepage befassen, weiterführende Informationen, beispielsweise Familienplanung und Fertilität. Ein besonderes Kapitel ist dem Formellen und Bürokratischen rund um das Adrenogenitale Syndrom (AGS) gewidmet.

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Psychologische Unterstützung

Die zu treffende Entscheidung für oder gegen eine mögliche Operation ist nicht leicht. Sie müssen akzeptieren, dass ihr Kind Ihre besondere Zuwendung braucht. Daher ist es wichtig, dass Sie in dieser schwierigen Zeit genau diejenige Unterstützung und/oder Form von Hilfe bekommen, die Sie benötigen und die Ihnen guttut. Falls Sie in der Behandlung eines spezialisierten Zentrums für pädiatrische Endokrinologie sind, wird Ihnen die Unterstützung durch einen Psychologen oder eine Psychologin nach der Geburt angeboten. Dies bedeutet nicht, dass die Ärzte Sie für schwach oder inkompetent halten, sondern diese Hilfe für Sie ähnlich wichtig sein könnte wie etwa die Hormonersatztherapie ihres Kindes für es selbst. Dabei ist wichtig zu wissen, dass die behandelnden Psychologen genauso spezialisiert zum Thema AGS, wie es auch die Ärzte oder Chirurgen sein sollten.

Psychologen, die in der Kinderheilkunde tätig sind, konzentrieren sich nicht nur auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder mit medizinischen Problemen, sondern haben auch immer die Familie, die Eltern sowie die gesunden Geschwister im Auge. Eltern und/oder Erziehungsberechtigte, die nicht nur die Expertise pädiatrischer Endokrinologen und versierter Chirurgen zur Seite haben, sondern auch die Unterstützung erfahrender Psychologen, fühlen sich meist sicher und stark genug zu entscheiden, was das Beste für Ihr Kind bzw. ihren Schützling ist. Auch für das heranwachsende Kind kann die Verbindung zu einem Psychologen in anspruchsvollen und fordernden Zeiten wichtig sein, in denen es die Frage „Warum Ich?“ stellt und möglicherweise gegen sein AGS revoltiert. Auch Sie können dann wieder Beratung und Unterstützung finden, wenn ihr Kind Ihre Hilfe besonders braucht. Eine andere Art der Unterstützung können Sie in Eltern anderer betroffener Kinder finden. Kontakte zu diesen Familien können über die behandelnden Ärzte oder Selbsthilfegruppen hergestellt werden.

Offenheit mit der Erkrankung

In der Vergangenheit haben viele Eltern die Grundlagen und Folgen der Erkrankung, insbesondere die Genitalveränderungen bei Mädchen, nicht mit ihren Kindern besprochen. Oftmals wurden diese Kinder „versteckt“ – Windeln wurden nicht vor Dritten gewechselt und selbst die Großeltern erfuhren nichts über das AGS ihrer Enkel. Obwohl dies sicherlich nur gut gemeint war und in der Absicht erfolgte, keine Ambivalenzen gegenüber dem Geschlecht des Kindes zu erwecken, hatte ein solcher Umgang oftmals fatale und traumatisierenden Folgen. Kinder haben besonders feine Antennen, wenn es um das Wahrnehmen von gut gemeinten Geheimnistuereien, Lügen und das Erspüren von Ängsten und Sorgen Erwachsener geht. In Unwissenheit der wahren Gründe malen sie sich in ihrer Phantasie die schrecklichsten Geschichten aus. Daher sollten Eltern offen mit allen Aspekten des AGS umgehen. Die Fragen des Kindes sollten in altersentsprechender Art und Weise beantwortet werden. Wenn Ihnen dies schwerfällt, seien Sie ehrlich und sagen es dem Kind genauso. Suchen Sie vielleicht jemanden auf, der es dem Kind erklären und einfühlsam transparent machen kann. Obwohl es nicht immer der einfachste Weg ist, die Wahrheit zu sagen, ist es der einzige Weg ihrem Kind gerecht zu werden.

Ein besonderer Fall ist das junge Mädchen, das als Säugling oder Kleinkind operiert wurde. Um als junges Mädchen zu begreifen, welche Operation gemacht wurde, muss sie das AGS verstehen. Das ist eine essenzielle Voraussetzung dafür, selbst (mit)entscheiden zu können, wann nach einer reinen Klitorisverkleinerung beispielsweise die Erweiterung der Scheide und die Verlagerung des Scheidenausgangs durchgeführt werden sollen. Ist das Kind zu jung, wird es durch die Erklärungen leicht verunsichert. In der Pubertät wird das Mädchen sich schwer für eine Operation entscheiden können, wenn der Zeitpunkt so definiert wird, dass man sich auch sexuell beginnt zu erforschen, dann aber vorher erst noch eine Operation in dem Bereich ansteht. Bei diesem Dilemma brauchen das Mädchen und auch die Eltern psychologische Unterstützung.